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~*~ Nat ~*~    - im Sommer zuvor

Mit dem Rücken schob ich die Hauseingangstür unseres bald ehemaligen Wohnhauses auf, da beide Hände mit schweren Koffern beladen waren. Ächzend schleppte ich sie weiter, wobei es nicht an mangelnder Muskelmasse lag, sondern an den Schmerzen in meinem Bein, das auch Wochen nach dem Unfall bei jeder Bewegung noch höllisch wehtat. Dennoch biss ich die Zähne zusammen, um ein Stöhnen zu verkneifen.

Ich näherte mich dem bereits fast vollgestopften Wagen, an dessen Seite Sarah lehnte, an der wiederum Johnny hing und die sich ausgiebig küssten. Schon wieder. Ständig. Sie waren dermaßen glücklich, dass ich mir schon fast wie bei dem Ende eines kitschigen Disneyfilms vorkam, in dem Fanfaren im Hintergrund zu hören waren und alle lachend miteinander tanzten, während sich das Paar in der Mitte küsste. Glücklich für immer und ewig oder so ein Schwachsinn ...

Auch wenn das jetzt anders klang, ich freute mich für die beiden. Wirklich. Sarah war meine kleine Schwester, einer der besten Menschen, die ich kannte, und Johnny mein bester Freund – ein aufrichtiger Kumpel. Die beiden hatten dieses Glück verdient, mehr als andere, und das wollte ich ihnen nicht madigmachen. Aber dennoch – es hielt mir immer wieder vor Augen, wie verflucht unglücklich ich mich fühlte. Wie zerrissen ich war, und wie verloren, obwohl ich jede Sekunde versuchte, diese Seite in mir wegzusperren, sie nicht nach außen dringen zu lassen.

Langsam machten sich kleine Risse in meiner Fassade bemerkbar und obwohl ich es nicht wollte, purzelten die nächsten Worte über meine Lippen: »Leute, müsst ihr ständig vor mir rummachen? Nehmt euch ein Zimmer. Es will nicht jeder sehen, wie ihr euch gegenseitig abschleckt.«

Ich beobachtete, wie sich Johnny nur widerwillig von Sarah löste, ihr etwas ins Ohr flüsterte, das sie grinsen ließ, obwohl sie ihm gleichzeitig mit dem Handrücken auf den Oberarm schlug, und ich die Augen verdrehte. Ich wollte gar nicht wissen, was er gesagt hatte, besonders nicht, wenn es um meine kleine Schwester ging. Aber sie war längst erwachsen und ich war der Letzte, der ihr etwas vorschreiben sollte. Die Rolle des Aufpassers, des großen Bruders, desjenigen, der für diese Familie sorgte, damit sie nicht weiter auseinanderfiel, stand mir nicht mehr zu. Nein, diese Rolle hatte ich vollkommen vermasselt und es gab keinen Weg mehr zurück. Wegen mir waren wir bloß noch zu zweit.

Zuerst war unsere Großmutter gestorben, die immer auf uns aufgepasst hatte. Dann unsere Mutter, während ich auf sie hätte achtgeben müssen, als Sarah mit Johnny in Amerika gewesen war. Und was hatte ich getan? Genau das Falsche.

Johnny kam auf mich zu und half mir das erste Gepäckstück in den Kofferraum zu hieven. Gleichzeitig grinste er und seine blauen Augen strahlten – er sah so verdammt glücklich aus und ich fühlte mich immer mieser, dass ich mich nicht so für ihn freuen konnte, wie er es von mir als seinem besten Freund verdient hatte, mein Lächeln nicht echt war, und ich es nicht fühlte, obwohl ich mich wirklich bemühte. Aber Gefühle konnte man nicht verändern, die waren einfach da.

»Ach Nat, ich mache wie immer nur, was du mir aufgetragen hast. Schon vergessen? Ich soll sie glücklich machen und das ist sie nun mal nur, wenn sie meine Lippen auf ihren hat. Das unwiderrufliche Gesetz der Natur. Da kann man nichts gegen machen.«
Im Hintergrund stöhnte Sarah, aber dennoch war ein Lächeln in ihrer Stimme zu hören: »Johnny, hörst du dir manchmal auch selbst zu? Man könnte meinen, du seist ein wenig selbstverliebt.«
»Ein wenig?«, prustete ich und hob gleichzeitig den letzten Koffer hoch. Schnell griff Johnny ebenfalls zu und grinste blöd. Ich begriff immer noch nicht, wie sie sich ständig gegenseitig aufziehen konnten und es Johnny gefiel, von Sarah veräppelt zu werden. Da hatten sich zwei gefunden.
»Leute, das habe ich nie bestritten. Wo ist also das Problem?«, antwortete er und funkelte zu Sarah hinüber.

Road to Forgiveness (Herzenswege 2)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt